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Wir alle

Franz Rieder •    (Last Update: 22.03.2017)

Wir alle leben in einer Gesellschaft. Das unterstreicht wohl jeder, ohne Bedenken. Aber was ist denn eine Gesellschaft? Was macht sie aus?
Zuerst muss man mal bedenken, dass wir von einer Gesellschaft reden, wie von einem Ding, einem Ding mit Eigenschaften wie ein Apfel groß und grün ist. Eine Gesellschaft ist aber keine homogene Einheit wie der Apfel übrigens auch nicht. Eine Gesellschaft besteht aus sehr vielen kleinen Einheiten mit jedem von uns gewissermaßen als kleinster, aktiver Zelle. Wobei jeder von uns uns auch keine wirkliche Einheit darstellt, weil er heute schon anders ist als gestern, vielleicht anders denkt, empfindet als gestern erst, weil er gerade sein Liebstes oder einen Job, seine Gesundheit oder sein Gedächtnis verloren hat.

Jeder von uns ist, in einem anderen Bild gesprochen, eine konzentrisch-exzentrische, also gesellschaftliche Zelle, insofern er mit anderen in Beziehung sich befindet, direkter oder indirekter Art, und so ein soziales Netz oder Geflecht von Relationen bildet, die selbst wiederum dynamisch sich verändern. Durch uns selbst oder durch Ereignisse. Durch geplantes oder spontanes, zielgerichtetes und nicht gerichtetes Verhalten und den unvorhersehbaren Einflüssen des Zufalls. Wir alle bilden also das Raumgewebe, das wir Gesellschaft nennen. Und die Gesellschaft wird von der Interaktion von uns allen wie auch von anderen „Gesellschaften“ und den zufälligen Ereignissen und Geschehnissen  geschaffen, jeden Tag neu.

Die Gesellschaft ist also nichts außerhalb von uns selbst, ein Objekt, etwas über oder zwischen uns. Wir alle sind die Gesellschaft. Zwischen uns existiert nichts anderes, wie eine abstrakte Gesellschaft, so wenig wie sich Sand zwischen den Sandkörnern einer Sanddüne befindet. Da ist auch nicht das Nichts und deshalb sind das Nichts wie die Gesellschaft Vorstellungen unseres Geistes.

Wenn zwischen uns allen nichts ist, außer unsere relationalen interaktiven Lebensvollzüge, wenn wir von allen anderen bestimmt sind wie wir alle anderen bestimmen, wenn alle Veränderungen allgegenwärtig stattfinden und jede Interaktion elementar ist, unabhängig ist und zugleich mit jeder anderen nach einen eigenen Rhythmus tanzt, dann kann unser Dasein auch nicht in einer Form oder Struktur von Zeit existieren. Alle elementaren interaktiven Prozesse zusammengenommen können nicht wie auch einzelne Interaktionscluster in linearen Reihenfolgen geordnet und beschrieben werden, trotzdem werden wir nicht umhin kommen, so zu tun.

Es ist wie mit den Newtonschen Gesetzen; auch wenn diese Gesetze uns sagen, dass es keine physikalische Wirklichkeit der Idee von Oben-und-Unten gibt, glauben wir noch lange nicht, dass wir an der Decke spazieren gehen. Und es war ja gerade Newton, der uns die Uhrzeit lehrte als eine Größe, die regelmäßig und unabhängig von allem, was geschieht, existiert.

So hat eine Gesellschaft eine Geschichte, wie wir auf die Uhr schauen, wenn wir auf den Bus warten und mal wieder zu spät sind. Tatsächlich aber ist Geschichte keine Eigenschaft einer Gesellschaft, da alle Veränderungen in der Zeit stattfinden und nicht außerhalb. Sie ist keine Eigenschaft und hat auch keine „Zeit“, sondern beschreibt lediglich eine ausgesuchte Art und Weise, wie sich das „Objekt Gesellschaft zu sich selbst und zu anderen Objekten des gleichen Typs verhält.


Wir alle – Keine Zeit


Die Zeit ist eine der schwierigsten Vorstellungen des Menschen und so auch der Philosophie wie der Raum und neuerdings die Materie, vor allem wenn sie als schwarzes Loch imponiert. Heidegger hat die Vorstellung der Zeit weniger aufgeklärt als verdunkelt. Das ist ein schwerer Kritikpunkt, das ist uns bewusst. Er hat zurecht den aristotelischen Zeitbegriff kritisiert, ihn übertrieben „vulgären Zeitbegriff“ genannt, insofern dieser die Zeit durch eine (unendliche) Abfolge von Zeitpunkten (Jetztpunkten als Differenz zwischen vorher und nachher, zwischen noch-nicht und soeben) denkt und damit aus dem Dasein herausnimmt, verdinglicht, objektiviert. Heidegger stellt dem seine Zeitlichkeit als eine an das Dasein, wegen seiner Endlichkeit gebundenen Zeit gegenüber, was aber auch kein neuer, wirklich anderer Aspekt ist.

Was ist das Problem mit der Zeit, was macht es so schwer, eine Vorstellung der Zeit in der Philosophie und also unserem Denken zu verankern, die anders ist als jene von Aristoteles bzw. von Isaac Newton?

Heidegger wird die „vulgäre“ Zeit nicht los und der Versuch, dies zu tun, ist schon sein und das Kernproblem selbst. Und wie immer, wenn er sich verrannt hat, verdoppelt er das Problem, in diesem Fall, indem er die zum Dasein gehörende Zeitlichkeit von der zum Sein gehörenden Zeit unterscheidet, und die Zeitdimension des Seins Temporalität nennt; noch nicht verwirrt genug?

Es zeigt sich im Durchgang von Sein und Zeit, dass die Zeitlichkeit ein zum Dasein gehöriges Existenzial ist, welches für das Verstehen von Sein überhaupt die Voraussetzung ist. Die Frage nach dem Sinn von Sein ist damit längst noch nicht beantwortet und es bedarf nach Heidegger eines weiteren Schrittes, aus der Zeitlichkeit des seinsverstehenden Daseins die Zeit als Horizont des Seinsverständnisses auszuweisen. Wie man weiß, war dieser Zeit der in „Sein und Zeit“ nicht enthaltene dritte Abschnitt „Zeit und Sein“ gewidmet. Hatten wir schon Schwierigkeiten mit einem Zeitbegriff, haben wir nun also zwei, die Zeitlichkeit und die Zeit (Temporalität). Mehr an Verwirrung in der Seinszeit geht wohl nicht.

Kommen wir an den Ausgangspunkt des Problems zurück. in Heideggers Philosophie sollte keine „Idee vom Menschen“ der Untersuchung des Daseins vorangestellt werden. Heidegger insistierte darauf, von der durchschnittlichen Alltäglichkeit auszugehen, in der sich das Dasein vollzieht, verhält und versteht. Durch diese Rückbindung an das Alltägliche bzw. aus deren Analyse glaubte Heidegger, die Philosophie aus dem Feld der Spekulation zurück in das „tatsächliche Leben“ führen zu können. Dieser Ansatz markiert den Kern der Auseinandersetzung mit Husserls ebenso phänomenologischem Ansatz. Menschliches Sein, so Heidegger in Absetzung von Aristoteles, lässt sich nicht mit Kategorien bestimmen. Kategorien beziehen sich auf ein Seiendes, der Mensch aber ist im Unterschied dazu ein Seiendes, das seine Bedeutung nur über die Tatsache erhält, dass es existiert.

Husserls Ansatz sieht dagegen (unter anderem) vor, Phänomene, also auch Seiendes und Nicht-Seiendes dadurch zu beschreiben, indem davon abgesehen wird, ob diese existieren oder nicht. Das bezeichnet Husserl als Epoché. Wir haben es also in der Auseinandersetzung zwischen Husserl und Heidegger an diesem fundamentalen Punkt damit zu tun, dass jener nicht, dieser aber sehr wohl zwischen existent und nicht-existent unterscheidet.

Den Menschen dadurch verstehen zu wollen, dass von dem jeweiligen individuellen Sein abgesehen wird, ist für Heidegger nicht möglich, da ja die Existenz dem Wesen des Seienden  vorausgehe. Zunächst existiere ich und dann erst ergeben sich daraus bestimmte Strukturen. Diese Strukturen sind die Existentialien.

Aber was ist mit den Ideen? Was ist mit der Einbindung des Menschen in das kulturelle Überlieferungsgeschehen, die Heidegger selbst die Geschichtlichkeit des Daseins nennt? Sind Ideen nicht existent? So wie Aristoteles Platon vorwarf, der den Ideen einen transzendenten „Ort“ zuwies und sie somit nicht zum Seienden im Sinne von etwas Existentem, synonym mit sinnlich Erfahrbaren rechnete. Und wenn das kulturelle Überlieferungsgeschehen nicht existent wäre, wie kann es dann den Verständnishorizont des Daseins bilden? Die eine Facette dieses Problems hängt also zusammen mit der Frage: was heißt existieren?

Eine zweite, direkt damit verbundene Facette des Problems, ist die Frage: was ist Zeit? Heidegger versuchte, innerhalb der philosophischen Tradition den versäumten Zusammenhang von Sein und Zeit zu thematisieren. Er analysierte die Tradition und sah, dass diese dem Irrtum erlag, ihre primären Themen, so da sind z. Bsp. Subjekt, Ich, Vernunft, Geist, Person etc. unbefragt auf ihr Dasein hin zu verstehen und dass damit aber letztlich nie die Zeit als wesentlich für die Bestimmung des Seins erkannt wurde. Heidegger sah das Kardinalindiz dafür darin, dass das Sein stets nur als Vorhandenes gedacht wurde, nämlich als Substanz, Materie, eben als ein Seiendes.

Nun gehört aber zum Substanzdenken der Zeitmodus der Gegenwart, der Materie und Substanz in ihrer Präsenz in den Blick bringt. Und genau hier führt Heidegger wieder einen aristotelischen Zeitbegriff ein, indem er später in seinem Werk – nach der sog. Kehre – versuchte zu zeigen, dass erst durch die (vulgäre) Zeit sinnhafte Bezüge zwischen den Dingen in der Welt möglich sind, z. B. sich ein Werkzeug nur dann verstehen lässt, wenn es für einen zukünftigen Hausbau nützlich ist. Am Beispiel des Krugs haben wir deutlich gesehen, wie sein Denken in eine blumige Vergangenheitssprache sich verstrickte, nun richtet sie sich in eine unklare Zukunft und dies um so mehr, als im Werkzeug generell der Zweck oder die Absicht des Zeugs sich zeitigt.

Um dies zu unterstreichen mag man seinen Ausführungen folgen, wenn es darum geht, dass das Dasein dazu neigt, einmal in einem notorisch gegenwärtigen Selbstverständnis an die Welt des Seienden zu verfallen. Neben dieser „Weltverfallenheit“  neigt es ebenso notorisch dazu, sich aus  einer der Vergangenheit entspringenden Tradition des Verstehens, also aus seiner Vergangenheit zu verstehen und somit neben seiner Weltverfallenheit auch noch einer „Traditionsverfallenheit“ aufzusitzen.

Genauso wie das Verstehen aus der Welt heraus dem Dasein ein wirkliches Verstehen seiner selbst verdunkelt, so kann dies also auch durch die „Herrschaft der Tradition“ geschehen, deren ungeheure Last das arme Dasein auf seinem gekrümmten Buckel mit sich rumschleppt, wie dies später auch von Karl Löwith aufgegriffen wurde.1

Wie dem entkommen? Heidegger beantwortet die Frage so: Durch die stete Klärung der Seinsfrage und eine „Destruktion der Geschichte der Ontologie“, um sich wieder in „den vollen Besitz der eigensten Fragemöglichkeit zu bringen“ und somit die durch die Tradition übernommenen Vorurteile und Ideologien wieder als solche sichtbar werden zu lassen.


Anmerkungen:

1 vgl. Weltgeschichte und Heilsgeschehen : die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Meaning in history , Löwith, Karl, 1897-1973; 6. Aufl.; 1973



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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